Der Abend danach

Gestern, vor 32 Stunden war die letzte mündliche Matur. Deutsch, Kafka, ich kotze nochmals alles heraus und dann ist es fertig. Erleichterung; erstaunlich wie frisch die Luft, wie hell der Himmel, wie schön der Tag ist, als ich nach draussen trete, vors Schulhaus, die Welt ist gross und sie gehört mir, auch wenn der Horizont schon drüben bei der Mensa ist. Ich möchte alle Herumstehenden umarmen, lasse es dann, schliesslich kann ich mich beherrschen (Schade). So jauchzt es denn leise in mir, und meine Augen strahlen dafür um so glücklicher. Ich bin nicht mehr Schüler, nicht mehr Gymnasiast, nicht Maturand, nicht Prüfungskandidat, nur noch Matthias, und so fühle ich mich auch. Dabei wusste ich ja, dass ich die Matur bestehen würde, ich kannte meine Vornoten und kann rechnen (Danke, Herr Burkart). Doch das Bestehen der Matur ist nebensächlich, irgendwas im Innern will gut und erfolgreich sein, will zeigen, was man kann, vielleicht weniger wegen den schönen Noten als vielmehr wegen der Bestätigung «ich kann was, das ganze hat ’n Sinn». Jetzt ist’s weg, was seit zwei Monaten oder mehr auf den Schultern drückte, das Kapitel Mittelschule ist beendet, Schwarzblende, Schnitt, une autre histoire. Nun, am Abend des Tages danach, fühle ich mich müde, so wie damals am Abend nach der durchgemachten Nacht des Nyon-Konzertes, damals mehr körperlich, heute mehr psychisch-moralisch. Und in die süsse Betäubtheit mischt sich was anderes, einsame Melancholie, doch ich muss noch etwas mehr in mich hineinhören, um dem Etwas zwischen Herz und Kopf einen passenderen Namen geben zu können. Es ist wie das leere Zimmer, in dem du zurückbleibst, nachdem sie ausgezogen ist. In der Ecke steht noch ihr Koffer, den wird sie später abholen lassen. Nein, ich liebte die Schule beileibe nicht, sie hing mir immer zum Hals heraus, nichts als Pseudoweisheiten, Schattenheater, geistige Selbstbefriedigung. Doch es bleibt ein Loch, all die Gesichter, die ich täglich sah, werden nun einfach nicht da sein. Es gibt nichts Langweiligeres als unsere tristen Schulzimmer, trotzdem beherbergten sie mich viereinhalb Jahre lang.

Mittelschullehrer sind Sadisten, statt dass sie dir Zeit lassen, dich mit der neuen Situation anzufreunden, zwingen sie dich dazu, am Schluss Schule in ihrer unerbittlich-intensivsten Form zu treiben, Schule pur, megamässige Datenmengen in dein Gehirn zu quetschen, jedes zarte Gedankenpflänzchen zuzuschütten. Doch auf den Schulheften wird schon bald eine Staubschicht liegen, nicht mehr lange, dann ist Kafka fern, die Zukunft hat begonnen und ich werfe mich ihr an die Brust. Umarme mich, trage mich weg, die Welt ist gross und gehört mir.

Quelle: Toaster, Dienstag, 1. Oktober 1991

Rubrik und Tags:

Metadaten
Thema: Matur (Sandy...!)
Nr: 23
Ausgabe:
Anzahl Subthemen:

Obsolete Datenfelder
Bilder: 0
Textlänge: 127
Ort:
Tabb: FALSCH