Freitag, den 25. Mai 1990

Tagebuch Schülerbegegnung Winterthur – Szeged

Persönliche Notizen von Matthias Schüssler

In den letzten Tagen und Wochen hatte ein Thema die Gespräche der Schüler der Kantonsschule Büelrain in Winterthur beherrscht: Die Schülerbegegnung mit ungarischen Jugendlichen, die vom 7. bis zum 22. April in Szeged, Ungarn, und vom 1. bis zum 14. Oktober 1990 in Winterthur stattfinden sollte. Es war nicht alles glatt gelaufen, es hatte einige Auseinandersetzungen und verärgerte Leute gegeben. Doch als die 32 Teilnehmer (30 Schüler und die beiden Leiter Willi Herrmann und Hansulrich Bührer) am Abend des 7. Aprils mit Bergen von Gepäck startbereit am Bahnhof Winterthur stehen, sind die unschönen Ereignisse im Vorfeld dieses aussergewöhnlichen Unternehmens vergessen: Man blickt voraus in die Zukunft, fragt sich, wie die kommenden vierzehn Tage wohl aussehen würden.

22 Stunden Reise bis in die 180’000 Einwohner zählende Stadt Szeged nahe des ungarisch-jugoslawisch-rumänischen Grenzdreiecks. Zeit, für die Schüler aus acht verschiedenen Klassen, sich näher kennenzulernen, aneinander zu gewöhnen. Am Morgen des 8. Aprils trifft der internationale Zug im regnerischen Wien ein. Mit einer älteren Ungarin üben wir auf der Weiterfahrt von Wien nach Budapest ungarische Phrasen. Jó reggelt, köszönöm, Beszél valaki németül? … Die Frau korrigiert, sagt vor, bis die Betonung stimmt und freut sich, dass sie uns etwas von ihrer Sprache beibringen kann. Richtung Szeged wird die Stimmung nervöser, zwiespältiger. Die Erwartungen sind hoch, gewisse Ängste vor dem Ungewissen vorhanden. Wie komme ich mit meinen Gastgebern aus, in welcher Umgebung wohnen sie, vertrage ich das Essen…? Dann, nach 22 Stunden voller Untätigkeit, geht es sehr rasch. Schon werden wir den Gastfamilien zugeteilt, kommen ins Zuhause der nächsten zwei Wochen, hören die ungewohnten Namen. Du bist da, ein Küsschen auf beide Wangen und dann gehörst du zur Familie. Dieses Ereignis erlebt wohl jeder anders, ist doch auch keine Gastfamilie gleich wie die andere. Ein Hindernis stellt sich jedoch in mehreren Familien: Die Kommunikation ist erschwert, einige ungarische Schüler haben nur wenig Englisch- oder Deutschkenntnisse. Die Eltern und Geschwister sprechen oft nur ungarisch. Die Gespräche mit Hilfe eines Dictionnaires sind zäh und mühsam – es braucht Übung und Geduld, so mit einander zu sprechen. Auch sind durchaus nicht alle Familien so arm wie erwartet. Es gibt einige. die wohnen in schweizerischen Verhältnissen, besitzen Einfamilienhäuser, Autos, Videogeräte. So zum Beispiel ich. Ich bin etwas enttäuscht, ich hatte lieber eine «typisch» ungarische Familie gehabt. Doch dieser Touch von Wohlstand und Kapitalismus ist die Ausnahme, oft müssen die Eltern oder Kinder im Wohnzimmer auf dem Sofa übernachten, damit sie dem Gast das Schlafzimmer überlassen können. Es gibt in Szeged (zu)viele Quartiere mit trostlosen, grauen Wohnsilos. Die 100 Schweizerfranken, auf dem Bahnhof beim Devisen-Schwarzhändler (die Ungarn dürfen nur sehr beschränkt ausländische Währungen kaufen, deshalb blüht der Schwarzhandel) in 5000 Forint gewechselt, entsprechen etwa einem Monatslohn. Ein weiteres Problem ist, dass die ungarischen Jugendlichen oft ein bis drei Jahre jünger sind als wir. Da gibt es schon mal den Fall, dass man sich einander nicht so viel zu sagen hat. Mein «Gspändli» interessiert sich für Autos (natürlich ist der «Moskvich» des Vaters das beste Auto, das es gibt) und für «Horrormovies» – wenn ich über politische Themen sprechen möchte, sagt er dann hingegen meist «I don’t know» oder «I don’t understand». Doch es gibt andere Quellen für solche Informationen, die ich anzapfen kann.

Beim ersten Abendessen blamiere ich mich. Das was ich für eine Olive gehalten habe, erweist sich beim Draufbeissen als scharfes Irgendetwas – es brennt wie das Fegefeuer mit dem Satan in (Un)person und hätte nur dem Würzen dienen sollen.

Meine Familie wohnt in Makò, einem kleineren Städtchen etwa dreissig Kilometer ausserhalb von Szeged. Diese Strecke muss mit einem stinkenden Überlandbus bewältigt werden, der dafür über eine Stunde durch die topfebene Landschaft schaukelt. Solchermassen erreichen wir am ersten Tag die Körösi Jószef Kösgazdasagi Szakközépiskola in Szeged, in der wir einige Informationen über eben diese Schule, die Geschichte der Stadt (so über die verheerende Überschwemmung 1879 des Flusses Tisza, zu deutsch Teiss, dem die Stadt aber auch ihre Existenz verdankt). Der Rektor der ungarischen Schule, Géza Csanadi. begrüsst uns freundlich, wir müssen aber, bevor wir richtig zuhören, unbedingt noch die Kollegen fragen, wie sie wohnen, wie sie die erste Nacht überstanden, haben. Anschliessend zwei Lektionen in Ungarisch. Der Nachmittag des 9. Aprils gehört der Stadt Szeged, wir lernen sie bei einem Stadtbummel naher kennen. Auch hier: Eigentlich sind wir nicht so an den sicher spannenden Daten und Fakten der Deutschlehrerin der Schule interessiert, wir lassen die neue Umgebung lieber einmal einfach so auf uns wirken. Beim Begrüssungsabend im Club der Schule habe ich ein Erlebnis, das ich im Laufe der nächsten Tage noch öfters antreffen werde: «So anders ist es hier doch gar nicht…». Aus den Boxen der zugegebenermassen «primitiven» Soundanlage der Disco kommen dieselben Tone. wie sie auch in der Schweiz zu hören sind: Billy Joel, Madonna, Depeche Mode… Die Gleichschaltung der Jugendlichen durch Popmusik hat weltweit wohl schon lange begonnen… Der 10. April, morgens. Nach einer Stunde über Winterthur, Wirtschaft, Sport und Kultur muss ich eine Lektion über Marketing halten. Wahrend der ersten 10 Minuten schwitze ich Blut und Wasser: Verständnislose Blicke meiner ungarischen Schüler. Ich beginne zu verstehen, wie sich unsere Lehrer manchmal fühlen müssen. Dann die Rettung in Gestalt einer Flasche mit braunem, klebrigem Inhalt, die mit Hilfe eines ausgezeichneten Marketings weltberühmt geworden und auch in Ungarn längst bekannt ist: Coca Cola. Wie einfach lässt sich an diesem konkreten Beispiel die Definition von Marketing fassbar machen… Und Lenin schaut wortlos von seinem Bild über der Wandtafel herunter, mit seinem bekannten steinernen Gesichtsausdruck.

Nach dem Mittagessen in der Schule (nicht jedermanns/fraus Sache, doch eigentlich nicht schlecht) nochmals zwei Stunden Unterricht in ungarischer Sprache. Nun sprechen wir diese Sprache schon fast fliessend. Der Abend gehört der Kultur, die in Szeged – ich entschuldige mich für dieses Wort – dreckbillig ist (ich bin kein Opern-Spezialist, aber ich vermute, dass sich das keinesfalls auf die Qualität der Aufführung auswirkt). 100 Forint ( = 2 sFr.) bezahlt man als Eintritt. Für weitere 200 bis 300 Forint kann man sich im Foyer schon ordentlich besaufen. Lammermoori Lucia ist die Geschichte über Liebe, Intrigen, Macht… Walter Scott (in der Bühnenbearbeitung von Donazetti) greift das Romeo und Julia-Thema auf. Die Story endet tragisch: mit einem Mord und einem Selbstmord.

Den Mittwoch verbringen wir hauptsächlich mit Carfahren. Szetendre, ein Städtchen in der Nahe von Budapest, das im Stil von griechischen oder italienischen Hafenstädten erbaut wurde und einmal von den Römern besetzt war war, bietet sich fürs Flanieren in den sonnendurchfluteten Gässchen direkt an. Zum erstenmal seit unserer Ankunft in Ungarn herrscht richtig schönes Wetter. Bevor wir jedoch dem Sonnenanbeterkult huldigen dürfen, besuchen wir ein Museum, in dem Skulpturen einer Frau ausgestellt sind, die hauptsächlich mit Naturfarben und -materialen arbeitet. Anschliessend bleibt noch etwas Zeit, in Budapest der Matyastemplon (Matthias Kirche) zu besichtigen und einige Fotos vom Berg (Seltenheit in Ungarn), auf dem die Befreiungs-Statue, eine Frau mit einem Palmwedel, steht, zu schiessen und das tolle Panorama mit guter Fernsicht auf den Kodacolor 100 zu bannen. Dann werden wir in den Car verfrachtet und nach Hause transportiert (wir fühlen uns wie echte Touristen!).

Der 12. April. Au dem Programm stehen die Besichtigung eines Webereimuseums, einer Töpferei und eines Erdölfeldes in Algyö. Ein alter Töpfermeister führt uns sein Handwerk, resp. seine Kunst vor. Auf einer vorsintflutlichen Töpferscheibe, die mit dem Fuss in Umdrehung versetzt wird, entstehen vor unseren Augen Vasen, Töpfe, Gefässe… Mit geschickten Fingern verwandelt der Alte den simplen Tonklumpen in einen feinen Gegenstand, es sieht so einfach aus, wenn er mit den Fingern auf der Drehscheibe die dünnen Wände hochzieht, ihnen die erwünschte Form gibt. Als es eine Schweizer Teilnehmerin versucht, lacht er herzlich, denn es lange nicht so geübt aus. Er meint allerdings, sie hätte geschickte Finger und er würde sie sofort einstellen.

Das Erdöl/gasfeld stellt dazu einen krassen Gegensatz dar. Schon von weit sind die riesigen tankförmigen Behälter sichtbar, eine rote Flamme, mit einer dreckigschwarzen Rauchfahne zeigt an, dass hier Gas abgefackelt wird. Das Werk nimmt einen wichtigen Stellenwert in der Industrie Ungarns ein. Von den 15 Mia m³ Erdgas, die jährlich in Ungarn benötigt werden, stammen 3 Mia m³ aus Algyö. 7 Mia m³ werden importiert. Zur Deckung des Gesamtverbrauches von 3 Mio Tonnen Erdöl trägt dieses Feld die Hälfte bei. Das äusserst saubere Öl sei sehr gefragt auf dem Weltmarkt, teilt uns der Direktor mit. Die Produktion koste etwa die Hälfte des auf dem Markt erzielten Preises, doch die Gewinne könnten nicht im Betrieb gehalten werden, sie würden vom Staat abgezogen werden. Trotzdem habe man ein Verfahren entwickelt, um dreckiges Wasser wieder in den Untergrund zurückzupressen. Es ist aber offensichtlich. dass Umweltschutz hier lange keine (wichtige) Rolle gespielt hat. Einer der 3000 Mitarbeiter verdient durchschnittlich 200’000 Forint pro Jahr. Das entspricht – nach Abzug von 40’/o Steuern – etwa 200 sFr. pro Monat. Wie lange ein Schüler in der Schweiz für eine solche Summe arbeiten muss, ist wohl bekannt. Die Computeranlagen, die man uns vorführt und der Speicherung von Daten und der Kontrolle dienen, stammen grösstenteils noch au den siebziger Jahren.

Am Nachmittag haben einige von uns nochmals wahrend einer Stunde über marktwirtschaftliche Themen zu referieren. Die beiden Leiter. zwei Schüler, die an einer Semesterarbeit sind, und zwei Presseleute beim Szegeder Stadtrat für Technische Betriebe, Csonka Miklos. Es geht um Wirtschaftshilfe; die Schweiz hat einen 250-Millionen-Kredit gesprochen. Doch um an dieses Geld heranzukommen, muss die Szeged konkrete Pläne vorlegen. Ein grosses Anliegen der Stadt ist die Abwasserreinigung. Heute fliessen die Abwässer der 180’000 Einwohner ungeklärt in die Teiss. Willi Herrmann hat nun den Kontakt zwischen Sulzer International und der Regierung hergestellt. Es ist so, dass die Stadt ein Budget von 4 Mia Forint jährlich zur Verfügung hat, über das sie nach herrschendem Steuergesetz nicht eigenständig verfügen kann, sondern sich nach Anweisungen aus Budapest richten soll (ein neues Steuergesetz, das mehr Selbstbestimmung zulässt, soll bald vors Volk). Davon muss die Stadt ¾ für Schulen, Krankenhäuser, Sport und so weiter ausgeben, für Neuinvestitionen bleibt nur ¼. Dazu kommt die starke Inflation, die rasante Entwertung des Forints. Es ist also klar, dass die Stadt die anstehenden Aufgaben (dazu auch der Wunsch, eine Musterstadt in bezug auf den Umweltschutz zu werden) nicht aus eigener Tasche bestreiten kann. Sie ist auf ausländische Hilfe und auf die Unterstützung durch die Wirtschaft angewiesen. Dieses Anliegen wird auch durch ein grosszügiges Steuergesetz für ausländische Firmen belegt. Es war nun das Anliegen von Willi Herrmann, den Stadtrat auf die Möglichkeit aufmerksam zu machen, von ausländischem, zum Beispiel Schweizer, Know-how zu profitieren; aber die Ausführung der Pläne selbst vorzunehmen. Weiter bestehe auch die Chance, so Herrmann, aus den Fehlern der andern zu lernen, und nicht die Sünden, die zum Beispiel im Rahmen des Strassenbaues (völlig verbauter Alpenraum) in der Schweiz gemacht wurden, auch zu wiederholen. Ungarn solle sich beim Ausbau der Infrastrukturen an anderen Ländern orientieren und so das Schienennetz modernisieren. Das Volk in Ungarn hat zum erstenmal frei gewählt, Sieger war das MDF (Ungarisches demokratisches Forum) und der Stadtrat hofft, dass sich die Stellung der Demokratie nach den Kommunalwahlen gefestigt haben werde.

Am Abend bin ich ziemlich depressiv: ich höre Dire Staits auf dem Walkman, bis ich einen Gehörschaden habe. Das hilft immer hundertprozentig und auch heute geht’s mir nachher besser.

Der Freitag, der Dreizehnte, wird seinem Ruf nicht gerecht: Der Ausflug nach Hódmezövadarhely läuft planmässig ab. Wir besichtigen die Arbeitsräume eines anderen Töpfers. Er ist der einzige im Dorf, der die langjährige Tradition des Töpferns fortführt und eine moderne, motorisierte Drehscheibe besitzt. Die gemütliche Werkstatt ist bis oben hin mit fertigen und halbfertigen Tonsachen gefüllt. Viele von uns nutzen die Gelegenheit und erstehen ein Souvenir, die anderen geniessen auf der Wiese den sonnigen Tag. Ich mag es, dass es hier einmal nach Land(wirtschaft) riecht und nicht nach Stadt.

Die dreieinhalb Tage über Ostern gehören den Familien, doch wir Schweizer versuchen doch, untereinander zusammen zu kommen. Freitagabends steht Fisch auf dem Speiseplan. Ich habe ziemlich Mühe mit dem Menü: Zu den fritierten Wasserbewohner gibt es Pommes frites und sonst nichts. Ich verspüre brennende Sehnsucht nach frischem Gemüse und knackigem Salat. Zuhause werde ich meiner Mutter ein dickes Lob für ihre Kochkünste aussprechen und mich dafür entschuldigen, dass ich sie sonst nie gebührend würdige!

Am Ostersamstag verpenne ich den halben Morgen, die andere Hälfte nutze ich kreativ (!) am Portable. Den Nachmittag verbringen fast sämtliche Ungarn und Schweizer bei der Geburtstagsparty einer Ungarin. Sie wird fünfzehn und freut sich über so viele Leute in der engen Wohnung. Der Abend gehört Makò, einem grösseren Ort ausserhalb Szeged, in dem ich lebe. Hier wohnen die reicheren Ungarn, es gibt mehrere Einfamilienhäuserquartiere. Ich stelle die indiskrete Frage nach dem Einkommen meiner Gastfamilie: Der Vater ist Leiter einer landwirtschaftlichen Genossenschaft, die Zwiebeln und Knoblauch exportiert, die Mutter arbeitet als Sekretärin. So kommt die Familie auf etwa 27’000 Forint monatlich, das ist drei- bis vierfach über dem Durchschnitt. Das alte Parteigebäude der KP dient heute einem sympathischen Zweck – es wird als Disco genutzt. Waffen zu Pflugscharen und Parteigebäude zu Discos… Ich gerate ins Philosophieren. Man sieht noch überall die Spuren resp. die Plakate der vergangenen Wahlen. Am besten gefällt mir das der Jugendpartei FIDECS (5 Schlussrang der Wahlen). Es zeigt oben den sozialistischen Bruderkuss von Breschnew und Erich Honecker und unten ein küssendes Pärchen und will wissen, welche Lebenshaltung die Leute nun vorziehen wollen. Ich stelle die Frage nach den Russen. Früher, meint mein Gastgeber, hätte man die Russen einfach mögen müssen. Doch heute sei es anders und so sei es wahrscheinlich, dass die russischen Denkmäler bald ausgedient hatten. Lenin-Statue billig abzugeben, Angebote bitte unter Chiffre sowieso. Der Vater meines Gastgebers ist Sekretär der ehemaligen KP, der heutigen sozialistisch-demokratischen Partei. Meine Frage, ob da nicht immer noch dieselben Leute wie vorher unter neuer Flagge mitmischen, beantwortet er ausweichend. Ausserdem ist er mit seiner Weiterbildung beschäftigt, eventuell wird er seinen Posten verlieren, wenn die Genossenschaft aufgelöst und die Betriebe privatisiert werden.

In Ungarn existiert ein für Schweizer ungewohnter Osterbrauch: Am Ostermontag besuchen die Männer – wunderschön herausgeputzt – die weiblichen Bekannten und Verwandten, um sie mit Kölnischwasser zu besprühen. Ich muss an dieser Tour teilnehmen; wir kommen so in sicher zwölf Familien. Die solchermassen geehrten Damen reagieren unterschiedlich, währenddem die älteren die ihnen gemachte Aufwartung scheinbar schätzen, erhalte ich von jüngeren und jüngsten oft ziemlich unfreundliche Blicke. Als Dank für die Tat erhalten die Herren ein Getränk und jede Menge Osterkuchen. Am Ende der Tour habe ich, nach all dem Bier und Wein, einen echten Schwips und einen schmerzenden Magen. Eigentlich möchte ich am Abend zuhause anrufen, doch meine Gastfamilie besitzt (erstaunlicherweise, sonst sind sie ziemlich westlich eingerichtet) kein Telefon. Ich erfahre, dass sie schon jahrelang auf einen Anschluss warten, offensichtlich ist hier die Infrastruktur ziemlich überfordert. – Der Dienstag gehört dem Sport, das einzige, was nicht mitspielt, ist das Wetter.

Die Glasfabrik, die wir am Mittwoch, dem l 8. April, in Oroshaza besichtigen, ist eindrücklich. Alleine eine Viertelmilliarde an Flaschen werden von 3000 Arbeitern pro Jahr hergestellt, weiter Fenster- und Sicherheitsgläser. Die Arbeitsbedingungen sind teilweise miserabel, die Arbeiter stehen ohne Gehörschutz, nur mit kleinen Pfropfen in den Ohren, an den lärmenden Ungetümen, die den rotglühenden Glasbrei in verschiedenste Formen bringen. Ein interessantes Detail: Währenddem in Wirklichkeit die Produktion einigen Ausschuss in Kauf nehmen muss, zeigt der (Propaganda)-Film, den wir am Anfang zu sehen kriegen, nur tadellose Erzeugnisse die Maschine verlassen, Abfall scheint es nicht zu geben.

Am Donnerstag besuchen wir eine Landwirtschaftliche Genossenschaft in Makò. Einige von uns wagen auf den Pferden der LPG einen Ausritt Anschliessend besichtigen wir die «Hungarofeder», die Enten- und Gänsefedern produziert, die dann in Sportkleidung, Kissen und Decken Eingang finden. Exportiert werden diese Erzeugnisse dann in die ganze Welt, darunter auch in die Schweiz. Der Abschlussabend im Club soll so langsam klarmachen, dass es dann am Freitagmittag Abschied nehmen heisst. Mit enormen Lunchpacketen machen wir uns auf die Heimreise. Trotz all den Problemen, die sich zwischen Ungarn und Schweizern ergeben haben (Altersunterschied, Sprach- oder Verständigungsprobleme allgemein), fällt der Abschied schwer. Bis wir uns im Herbst wiedersehen! Verdankt sei noch die Organisationsarbeit der ungarischen Lehrer, die uns hervorragend betreut und die Ausflüge ermöglicht haben. Dank an die ungarischen Familien mit ihrer beeindruckender Gastfreundlichkeit, mit der wir aufgenommen worden sind. Und ganz herzlichen Dank an Willi Herrmann, der Organisator, der mit einem ungeheuren Elan das Projekt gegen etliche Widerstände zu gutem Gelingen geführt hat. Denn das, was bleibt, und das sich in diesem Bericht nicht ausdrücken lässt, sind die unzähligen menschlichen Kontakte untereinander gewesen, die da stattgefunden haben. Diese werden hoffentlich in einem Briefkontakt weitergeführt werden! Au der Heimreise haben wir Aufenthalt in Budapest. An der ungarisch-österreichischen Grenze werde ich gefilzt: Ich habe noch zuviel Geld bei mir: damit ich es nicht abgeben muss, kaufe ich am nächsten (überteuerten Touristenladen Zigaretten und Wein. Der Zöllner deutet an, dass bei diesen Zollbestimmugen eigentlich jeder blöd sei, der die überzähligen Forints, die nicht ausgeführt werden dürfen, deklariert. Ich nehm’s zur Kenntnis und bin dafür in meiner Ansicht bestärkt, dass Grenzen (aller Art!) die dümmste Erfindung der Menschheit ist und dass wir immer wieder versuchen sollten, solche Grenzen zu überwinden!

Quelle: Andelfinger Zeitung, Freitag, 25. Mai 1990

Rubrik und Tags:

Metadaten
Thema: Schülerbegegnung Schweiz–Ungarn
Nr: 13
Ausgabe:
Anzahl Subthemen:

Obsolete Datenfelder
Bilder: 0
Textlänge: 971
Ort:
Tabb: FALSCH